Valentin Blank, September 2008

Weltpremiere: H8 — Skulptur fürs Handgelenk

Ein Essay über Beat Haldimanns erste Uhr ohne Zeiger

Maschinenöl

Beat Haldimann erwartet mich schon beim Tor und bittet mich herein. Im Foyer werden meine Atemwege augenblicklich mit Maschinenöldämpfen imprägniert. Die Quelle dieses überraschend angenehmen Dufts thront auf einer Palette neben mir: Haldimann erklärt mir, dass es ihm endlich gelungen ist, eine der wenigen alten Schäublin Drehbänke für sich zu sichern. Er erwarb ihn von einem niederländischen Spital.

Drehbank in Beat Haldimanns Foyer

Der jüngste Neuzugang in Haldimanns Maschinenpark


Vor zwei Tagen wurde dieses Ungestüm mit seiner halben Tonne Gewicht mit dem Lastwagen geliefert; die Drehbank ist gewissermassen in ihre Heimat zurückgekehrt. Beat Haldimann kann seine Freude über den neuwertigen Zustand dieser Maschine nicht verbergen und streicht stolz über den perfekt erhaltenen Originallack. Es wird einen komplizierten Kran und ein paar kräftige Männer brauchen, um die Drehbank an ihren vorgesehenen Platz im Atelier zu verschieben.

Drehbank in Beat Haldimanns Foyer mit Spiegel an der Wand

Stillleben: Drehbank mit Wandspiegel


Tragbare Skulptur

Die Ankunft dieser schmucken Maschine fällt zusammen mit der Vollendung von Haldimanns jüngster und bis dato kompromisslosesten Kreation, welche Grund meines Besuchs ist: die H8 — eine Weltpremiere. Treten wir also ein, um uns das Kleinod näher anzusehen. Wir nehmen in der Veranda Platz, um uns bei einem gemütlichen Gespräch auf die H8 einzustimmen und durch die grosszügige Verglasung das frische Grün der umliegenden Bäume zu geniessen. Vor mir auf dem Clubtisch steht eine glänzende schwarze Schatulle, die nur darauf wartet, endlich geöffnet zu werden. Nach Haldimanns Ausführungen über dieses technische Wunderwerk kann ich mich nicht mehr länger beherrschen und hebe vorsichtig den hölzernen Deckel. Sorgfältig auf ihr Lederkissen geschnallt, blickt mich diese einnehmende Schönheit an:

Ein bewundernder Blick auf Haldimanns jüngste Kreation: die H8

Ein bewundernder Blick auf Haldimanns jüngste Kreation: die H8


Die H8 hat keine Zeiger. Mehr — oder sollten wir sagen weniger — als bloss eine Uhr ist sie eine Skulptur. Und damit trifft sie die Wünsche des Bestellers dieses ersten Exemplars ins Herz: Er hat sein Haus mit Skulpturen umgeben, die er jedoch selten zu Gesicht bekommt, da er ständig auf Reisen ist. Mit der H8 erhält er nun eine Skulptur, die ihn überall hin begleitet.

Nahaufnahme der Skulptur: ein prächtiges Zentraltourbillon

Nahaufnahme der Skulptur: ein prächtiges Zentraltourbillon


Für Kenner ist augenscheinlich, dass die H8 auf der H1 basiert. Beat Haldimann hat sich aber nicht damit begnügt, einfach die Zeiger wegzulassen. Er hat das Gehäuse modifiziert und das zeichenlose Zifferblatt im eigenen Atelier galvanisiert. Die Lünette wurde niedriger gefertigt und das Saphirglas weist eine bedeutend stärkere Wölbung auf. Diese kompromisslose Bauweise bringt das Tourbillon in seiner ganzen Vollendung zur Geltung. Es scheint auf dem Glas zu schweben. So kann sein bezaubernder Tanz nicht nur frontal, sondern auch von beliebigen Seitenwinkeln bis hin zu 90 (!) Grad bewundert werden. Das Erlebnis ist schwer in Worte zu fassen und lässt sich mit den bisherigen Tourbillons nicht vergleichen.

Beat Haldimanns Zentraltourbillon von der Seite: ein Kosmos hinter Glas

Das Zentraltourbillon von der Seite: ein Kosmos hinter Glas


Statt die Uhr mit einem verspielten multidirektionalen Tourbillon zu entstellen, hielt Haldimann seiner klassischen Konstruktion die Treue, welche in ihrer schlichten Eleganz unübertrefflich ist und nun vom Träger in praktisch jeder erdenklichen Stellung verfolgt werden kann. So war es auch möglich, die majestätische Grösse des Tourbillons beizubehalten, womit ihm auch der einzigartige Gesang erhalten blieb.

Beat Haldimanns Skulptur, betrachtet aus der Horizontalen

Die Skulptur, betrachtet aus der Horizontalen


Der Gehäuseboden wird in diesem Artikel nicht gezeigt, da er noch nicht fertiggestellt wurde. Doch soviel kann bereits verraten werden: Die neuen Haldimann-Uhren werden keinen Einblick mehr ins Innenleben der Uhr gewähren. Zu Recht gemahnt Beat Haldimann, dass viel zu viele Uhren heute einen durchsichtigen Gehäuseboden haben, obschon es nicht einmal bei der Hälfte davon angebracht ist. Er gibt dem minimalistischen verschlossenen Gehäuseboden den Vorzug und bringt damit ein weiteres “Detail” der H8 in Einklang mit seinem reduktionistischen Ansatz. Die Schlussversion des Gehäusebodens wird mit einer Gravur der Mondphasen versehen sein und damit gleichzeitig auf das Haldimann-Logo anspielen. Gleichzeitig hat Beat Haldimann aber der Schlichtheit und Harmonie zuliebe auf die Anbringung seines Logos auf dem Zifferblatt der H8 verzichtet. (Wer ganz genau hinsieht, wird allerdings eine Miniaturversion des kreisrunden Kugellogos entdecken, welches als Echtheitszeichen gedacht ist.) Ferner werden die neuen Haldimann-Uhren auch keine individuelle Gehäusenummer mehr tragen. Nummern kommen allerdings auch in Zukunft auf das Gehäuse, nämlich in Form des Fertigstellungsdatums. Als hätte ich etwas anderes erwartet, versichert mir Beat Haldimann, dass niemals zwei Haldimann-Uhren an einem Tag fertiggestellt werden.

Allen Haldimann-Uhren begegnete man bislang stets in einer zweistufigen Annäherung: Zuerst wird die Aufmerksamkeit auf die Bewegung gelenkt — sei es vom Tourbillon im Falle der H1 und H2, sei es vom Pendel bei der H101. Erst danach liest man die Zeit ab. Philosophisch veranlagt, hat Beat Haldimann diese zweite Phase seit jeher als optional betrachtet. Mit der H8 hat er dieser Haltung das erste Mal Gestalt gegeben. Das Ergebnis ist eine Uhr, die “nur” den Verlauf der Zeit, nicht aber die Zeit selbst anzeigt. Und diesem bewegenden Spiel wollen wir uns nun zuwenden. Haldimann hat die Uhr bewusst noch nicht aufgezogen, damit ich das Tourbillon zunächst in all seinen feinen Details auf mich wirken lassen und ablichten kann. Dann drehe ich endlich die griffige Krone und langsam beginnt dieses kreisrunde Wunderwerk zu schwingen.

Nahaufnahme von Beat Haldimanns H8 Zentraltourbillon

Die Schöne im Schlaf ...

Nahaufnahme von Beat Haldimanns H8 Zentraltourbillon in Bewegung

... und erwacht


Unité de doctrine

Beat Haldimann beantwortet meine Frage, ob die Uhr denn reguliert sei, mit einem deutlichen “Ja”. Die H8 wird nach den genau gleich strengen Kriterien reguliert wie jede andere Haldimann-Uhr. Natürlich werden sich gewisse wundern, wozu dieser Schritt gut sein soll. Nach einigem Überlegen wird man darin Haldimanns philosophische Grundhaltung reflektiert sehen, welche die H8 ausmacht. Ausserdem ist es für den Angefressenen immer noch möglich, die Genauigkeit der H8 anhand des Tourbillonkäfigs zu messen, welcher pro Minute eine Umdrehung macht.

Beat Haldimann horcht dem Gesang des H8 Tourbillons

Beat Haldimann horcht dem Gesang des Tourbillons


So wie alle seine Uhren produziert Haldimann auch die H8 praktisch vollständig im eigenen Haus. Typische Ausnahmen sind das Saphirglas und das Alligatorband. Die Teilchenfertigung und die Finissage sind reine Handarbeit. Wie ich in meinem ersten Artikel über den Besuch in Haldimanns Aterlier erwähnt habe, gelang es Beat Haldimann über die Jahre, alte Präzisionsmaschinen aus der vordigitalen Zeit zu erwerben. Die eingangs erwähnte Drehbank aus dem niederländischen Spital ist nur das jüngste Beispiel. Ohne diese schönen Maschinen wären Kreationen wie die H8 undenkbar. Haldimann schätzt nicht nur die unverwüstliche Präzision dieser Maschinen, er hat auch einen Sinn für deren eigenwillige Ästhetik entwickelt. Um dies zu veranschaulichen, zeigt mir Haldimann einen Vergrösserungsapparat aus den sechziger Jahren. Das zu prüfende Teilchen wird auf eine kleine Linse gelegt und von oben mit einem Punktstrahler beleuchtet. Über ein kompliziertes Linsensystem werden die Strahlen auf einen riesigen Milchglasschirm projiziert, worauf das Teilchen in hundertfacher Vergrösserung bestaunt und analysiert werden kann. Während heute die meisten Uhrmacher ein elektronisches Mikroskop mit Computerbildschirm verwenden, bevorzugt Haldimann diesen ebenso eleganten wie soliden Apparat, dessen Präsenz einem alten Weisen gleichkommt. Der Vorhang und der leicht vergilbte Milchglasschirm verleihen der Untersuchung überdies eine romantische Note.

Eleganter Vergrösserungsapparat mit Haldimann-Anker

Eleganter Vergrösserungsapparat mit Haldimann-Anker


Als wäre dies noch nicht genug, wendet Haldimann seinen Blick nun auf ein weiteres Schmuckstück in seinem Maschinenpark: eine Koordinatenbohrmaschine. Obschon sie sich in Gestalt und Funktion vom Vergrösserungsapparat kaum deutlicher unterscheiden könnte, versprüht sie denselben Charme.

Eine alte Koordinatenbohrmaschine in Beat Haldimanns Atelier

Ein Schmuckstück: Koordinatenbohrmaschine aus den Dreissigern

Beat Haldimann führt die Bedienung der Koordinatenbohrmaschine vor

Haldimann führt die Bedienung der Koordinatenbohrmaschine vor


Schlusswort

Die H8 kann als provokative Uhr gesehen werden. Kein Zweifel, diese Uhr wird ebenso viel Begeisterung wie Verwunderung auslösen. Im Wunsch, die H8 zu “verstehen”, ist es sicher hilfreich zu bedenken, dass Haldimann mit ihr unser Verständnis der Uhr hinterfragen will. Die H8 ist eine Skulptur, welche unser Verhältnis zur Zeit auf ebenso elegante wie unverfrorene Weise in Frage stellt. Je länger ich den Tanz dieses Tourbillon verfolge, desto mehr verstehe ich, wie vergänglich und unbedeutend unser Leben im Vergleich zur Zeit ist.

Beat Haldimanns H8 Zentraltourbillon am Handgelenk

Ewigkeit an meinem Handgelenk


Danke, Beat Haldimann!


Falls Ihnen dieser Artikel gefallen hat, sei Ihnen meine Erinnerung an den Atelierbesuch bei Beat Haldimann sowie mein Essay über die Haldimann H9 zur Lektüre empfohlen.