Valentin Blank, April 2008
Nebelschwaden hängen über der Autobahn an diesem frühen Samstagmorgen im April. Ich bin auf dem Weg nach Interlaken, um Harish zu treffen, ein Uhrensammler aus Kalifornien. Er erstand neulich eine Haldimann H1 und so denke ich mir, wäre es schön, ihn mit einem Besuch bei Beat Haldimann zu überraschen. Ein Anruf genügt, um Haldimanns spontane Zustimmung zu erhalten. Schon blicken wir voller Vorfreude dem auf halb elf festgesetzten Besichtigungstermin entgegen.
Versteinerte Ruhe: der Niesen
In gemächlicher Fahrt streichen wir dem Seeufer entlang, passieren die Beatenbucht und machen Zwischenhalt in Merligen, um uns vom Anblick des Niesen verzaubern zu lassen. Souverän durchsticht diese edle Pyramide die letzten Dunstfetzen und thront majestätisch auf ihrem Spiegelbild. Kein Wunder hat dieser Berg schon manchen Maler inspiriert, allen voran Paul Klee. Dem Niesen wird auch nicht grundlos nachgesagt, er wirke beruhigend auf seine Betrachterinnen und Betrachter. Wie wir eine halbe Stunde später herausfinden werden, teilt der Niesen diese Qualität mit Beat Haldimann.
Ungeduldig erreichen wir auf die Minute Beat Haldimanns Atelier. Das gediegene Herrschaftshaus wurde 1907 im typischen Stil der Jahrhundertwende erbaut. Seinem hohen Konsistenzbedürfnis entsprechend, hat Haldimann nicht nur den Wohnteil, sondern auch die Werkstatt mit Möbeln des Deutschen Sezessionismus eingerichtet. Beim Wandeln durch diese grosszügigen Räume wird uns denn auch auf Anhieb klar, woher Haldimann und seine Belegschaft ihre Geduld, Eingebung und Ausdauer hernehmen. In angenehmer Unaufdringlichkeit vereint sich in diesem einzigartigen Schaffensort Geschmack und Harmonie.
Der Sitz von Haldimanns Atelier
Für den unwahrscheinlichen Fall, dass diese Atmosphäre einmal zu einnehmend würde, brauchen die Uhrmacher bloss durch die Balkontüre nach draussen zu spazieren. Dort erwarten sie philosophische Freuden: die ‘unendliche Schleife’. Auf diesem kleinen Fussweg in der Form einer Acht kommen einem die Ideen ganz von allein — so wie schon den Peripatetikern zu Aristoteles’ Zeiten. Auch im Vorgarten fehlt es nicht an Anregung. In heiterer Spontaneität speien hier zwei Travertinsäulen Feuer. Ich werde Ihnen später erzählen, was diese eigensinnige Skulptur mit Haldimanns Uhren zu tun hat.
Beat Haldimann neben seiner Gartenskulptur
In den stubenartigen Atelierräumen steht die Zeit still. Umgeben von gediegenen Möbeln und massiven Maschinen finden wir sogleich zur Ruhe. Hier piepst nichts und blinkt nichts, denn der prächtige Maschinenpark setzt sich ausnahmslos aus Exemplaren der vordigitalen Zeit zusammen. Haldimann hat diese begehrten Stücke mit viel Geduld nach und nach erworben. Der Aufwand hat sich zweifellos gelohnt, denn in ihrer Massivität sind diese gusseisernen Schönheiten nahezu unzerstörbar und während Jahrzehnten hoch präzis.
Präzisionsdrehbank auf Parkett
Einer der Atelierräume
Während wir die inspirierende Stille einatmen, erklärt uns Beat Haldimann, dass er bewusst und gänzlich auf den Einsatz von CNC-Maschinen verzichtet. Zwar könnte er mit ihnen kostengünstiger produzieren, doch sei diese Kosteneinsparung insgesamt vernachlässigbar. Vor allen Dingen aber würde der Herstellungsprozess sowie die Uhren selbst einen Teil ihres Charmes einbüssen. Der Verzicht auf CNC-Technologie bringt es mit sich, dass jedes Uhrwerk — gleich wie noch vor hundert Jahren — individuell und von Hand abgestimmt werden muss, damit die Teile in flüssiger Weise zusammenwirken. Deshalb kann jede Haldimann Uhr für sich in Anspruch nehmen, ein echtes und kunstvolles Unikat zu sein.
Das Mikroskop scheint auf einen für die H1 bestimmten Tourbillonkäfig
Unterweisung im Werkebau: Haldimann erklärt das Kaliber H.ZEN-A
Bei Haldimann werden sämtliche Arbeiten auf einen Tausendstelmillimeter genau von Hand durchgeführt. Viele Werkzeuge haben Beat Haldimann und sein Team selbst entwickelt und gebaut. Diese Werkzeuge werden auch zur Restauration alter Uhren verwendet, eine instruktive Tätigkeit, welcher Haldimann trotz der stetig wachsenden Nachfrage für seine eigenen Produkte grosse Bedeutung beimisst.
“Vogelzungen” zum Abschrägen des Tourbillonkäfigs
Sämtliche Teile seiner Uhren und Pendulen lagert Haldimann bei sich im Atelier. Im Einklang mit der Umgebung ruht ein Teil der Fournituren in einem hübschen Kabinett sezessionistischer Prägung. Natürlich ist Haldimann auch in der Lage, jederzeit ein bestimmtes Teil herzustellen, sollte es einmal rar sein.
Wo die Fournituren lagern
Kommen wir endlich zu den Uhren. Haben Sie die Taschenuhr im untenstehenden Bild schon einmal gesehen? Vermutlich nicht. Ein Uhrmacherkollege rief Haldimann eines Tages an und frohlockte, er habe eben eine Haldimann Taschenuhr erstanden. Beat Haldimann hielt dies zunächst für einen Scherz. Als der Kollege ihm daraufhin ein Bild zusandte, dachte Haldimann es sei manipuliert. Erst als die Taschenuhr selbst bei ihm eintraf, nahm er sie für echt: Ein Blick ins Werk verriet ihm sogleich, dass der frühe Namensvetter ein Meisteruhrmacher gewesen sein muss. Übrigens besitzt die abgebildete Uhr ein exquisites Gestaltungsmerkmal, welches Beat Haldimann derart inspiriert hat, dass er es in seine nächste Kreation aufzunehmen gedenkt. Ihm will ich es überlassen, das Geheimnis zu lüften.
Kein Scherz: Haldimann Taschenuhr
Dieser Fund weckte Haldimanns Interesse; seither konnte er einige weitere Stücke ergattern. Ein besonders schönes Exemplar ist mit toter Sekunde und Foudroyante bestückt. Haldimann traf den klugen Entscheid, das Uhrwerk nicht zu überholen, um die Uhr als Zeugnis des damaligen Raffinement und der Fertigungsqualität zu bewahren. In der Tat lässt die Finissage keine Wünsche offen.
Antike Haldimann Taschenuhr mit toter Sekunde und Foudroyante
... und ihr exquisites Innenleben
Schreiten wir nun in die Gegenwart, um uns den Meisterwerken unseres Haldimanns zu widmen. Erinnern Sie sich noch an die eingangs erwähnte Gartenskulptur? Die ihr entweichenden Flammen reagieren aufeinander: Die aus der einen Säule hervor schiessende Flamme stimuliert die andere Säule, ebenfalls eine Flamme zu speien. Dahinter steht das Prinzip der Resonanz, welches ein Leitmotiv von Beat Haldimanns Uhrmacherei ist. Und in der von Sammlern euphorisch aufgenommenen Haldimann H2 hat dieses Prinzip schönste Gestalt gefunden.
Zwei fliegende Tourbillons für den Kopf: die ingeniöse H2
Bei genauem Hinsehen erschliesst sich uns die Genialität dieses eindrücklichen Mechanismus: Die beiden Ankerräder dieses Doppeltourbillons stimulieren sich gegenseitig und beginnen nach wenigen Drehungen im Gleichklang (in gegenläufiger Richtung) zu schwingen. Grund dafür ist die Resonanz, welche durch eine Verbindung der beiden Unruhfederhalterungen zwischen den beiden Rädern übertragen wird. Die Vorrichtung ist auf dem untenstehenden Bild gut erkennbar. Ebenfalls sichtbar sind die beiden Breguetfedern, deren äussere Kurve zur Verbesserung der Resonanz modifiziert wurde. Diesen Mechanismus in Aktion zu erleben, ist einfach einnehmend schön. Besonders hervorzuheben ist auch, dass die H2 trotz ihres komplizierten Uhrwerks Haldimanns bevorzugte Gehäusedimensionen, nämlich 39 mm im Durchmesser und 10 mm hoch, nicht überschreitet. Wenn die Resonanz auch Sie zum Schwingen bringt, sollten Sie sich unbedingt auch Haldimanns spektakuläre Pendule H101 einmal näher ansehen.
Hören Sie das Ticken?
Um es mit Haldimann zu sagen: Während die H2 den Intellekt anspricht, trifft die H1 direkt ins Herz. In der Tat scheint es unmöglich, sich dem Charme ihres riesigen Zentraltourbillons zu entziehen. Es ist das grösste je in einer klassisch dimensionierten Armbanduhr verwendete Tourbillon überhaupt. Jede einzelne dieser ausladenden Oszillationen erinnert an den reizenden Tanz einer Muse. Und eine Stimme hat sie auch: Während “singende” Tourbillons in Taschenuhren häufig anzutreffen waren, horcht man diesem Gesang bei den weitaus kleineren Armbanduhren vergebens. Sie ticken einfach nur. Haldimann wollte auch seine Armbanduhren zum Singen bringen, was ihm durch die Konstruktion dieses Riesentourbillons gelungen ist. Halten Sie die H1 an Ihr Ohr und Ihre Knie werden weich. Welch intimes Vergnügen!
Ein Tourbillon für das Herz: die singende H1
Natürlich hat auch die H1 die klassischen Gehäusemasse einer Haldimann Uhr. Dennoch misst der Tourbillon eindrückliche 16,8 mm, die Unruh 14,14 mm. Besser als jede andere von Haldimanns bisherigen Kreationen verkörpert die H1 Haldimanns philosophischen Zugang zur Uhrmacherei. Erst nach ausführlichem Genuss dieser mitten auf dem Zifferblatt pulsierenden Skulptur soll die Zeit abgelesen werden — wenn es denn unbedingt sein muss. Und wenn Sie erst einmal dem Bann einer Haldimann Uhr verfallen sind, werden Sie verstehen, weshalb dieser zweite Schritt in der Tat bloss optional ist.
Magnet meiner Blicke: die H1
Die wenigen Glücklichen, die sich eine Haldimann Uhr gönnen, sollten sich das Vergnügen nicht nehmen lassen, die Uhr bei Beat Haldimann persönlich entgegenzunehmen. Haldimann pflegt seine Uhren jeweils in der Bibliothek seinen zukünftigen Besitzern zu übergeben. Die grosszügigen Regale sind reichhaltig bestückt mit Werken der Uhrmacherei. Dieser Ort bietet einen vorzüglichen Rahmen, um jenen einzigartigen Moment im Leben eines Uhrensammlers angemessen zu feiern.
Wo die begehrten Haldimann Uhren ihren Besitzer wechseln
Lange nach dem Abschied von Beat Haldimann vernahm ich in meinem Kopf noch immer den Gesang seines Tourbillons, eine Melodie, die sich nahtlos verband mit den Erinnerungen an diesen unvergesslichen Besuch. Haldimanns konsequenter Ansatz hat mich nachhaltig beeindruckt. Seine Denkweise, seine Aussagen, die Einrichtung seines Ateliers sowie das seinen Kreationen zugrunde liegende Konzept, alles scheint Teil desselben Wesens zu sein. Mit Fug darf man schliessen, dass Haldimann seinen Idealen kompromisslos nachlebt. Glücklich waren wir, an jenem Aprilmorgen an diesen Idealen teilzuhaben.
Danke, Beat Haldimann.
Falls Ihnen dieser Artikel gefallen hat, sei Ihnen mein Essay über Beat Haldimanns H8 sowie über die Haldimann H9 zur Lektüre empfohlen.